Rote Mohnblumen

1.

Den Monat Juni mochte Rosa Haller am liebsten. Zu dieser Zeit blühten ihre Lieblingsblumen, die Mohnblumen. An den Straßenrändern, auf den Feldern, ja, überall waren die knallroten Blüten zu sehen. Am frühen Morgen brauchte sie nur aus dem Haus zu gehen, an der katholischen Kirche mit dem runden Türmchen vorbeizulaufen, dann an der Ampel die laute Straße zu überqueren, und schon waren es nur noch wenige Schritte bis zu den Feldwiesen. Sie genoss eine Weile den Anblick der Blumen, atmete tief die frische, nach saftigem Gras riechende Luft ein und machte sich dann auf den Rückweg. Nur selten pflückte Rosa eine Mohnblume. ‚Warum diese Schönheit zerstören?‘, dachte sie. ‚Lass auch die anderen sie bewundern.‘
Und eines Tages, als sie gegen 7 Uhr morgens auf dem Rückweg langsamen Schrittes schon in der Nähe ihres Hauses war, begegnete ihr Julius Bem. Dieser Julius war in der Siedlung wohlbekannt. Jeden Morgen ging der kleinwüchsige, auf einem Bein hinkende ältere Herr mit kurz geschnittenem Haar und Bart, der nicht ganz klar im Kopf war, nach 7 Uhr vor seine Haustür und beobachtete stundenlang die vorbeieilenden Passanten. Aber an besagtem Tag war er sehr aufgeregt. Er kam Rosa eilig entgegen, wedelte mit den Händen und murmelte etwas vor sich hin. Als er näher an Rosa herangekommen war, vernahm diese deutlich die Worte:

„Jetzt bin ich mir sicher, ganz sicher. Er hat Frau Siemens umgebracht, ja, er war´s...“
„Was haben Sie gesagt?“, fragte Rosa ohne nachzudenken.
„Was?“, der Mann hielt kurz an, schaute sie verwirrt an. Dann begriff er, dass Rosa gehört hatte, was er vor sich hingesprochen hatte, machte eine abweisende Handbewegung und erwiderte mürrisch: „Das geht Sie nichts an. Nein, geht nichts an...“
Rosa zuckte mit den Schultern und ging weiter. Über die Worte des Alten dachte sie nicht lange nach. Wer konnte schon wissen, was dem kranken Mann in den Sinn gekommen war. Eine Stunde später ging sie zur Arbeit. Sie war Kellnerin in dem in einer Nebenstraße gelegenen Café „Am Bächlein“. Nachmittags bekam sie mit, wie sich zwei Gäste über Frau Siemens‘ seltsamen Tod unterhielten.
„Welch merkwürdiger Tod“, sprach der Supermarktbesitzer Erik Sommer, ein grauhaariger Herr mit tiefliegenden grauen Augen, und schaute den Arzt Friedrich Winner fragend an. „Sie soll in ihren alten Gartenteich gestürzt und ertrunken sein. Und erst am nächsten Tag soll man sie dort entdeckt haben. Die Polizei hat den Fall gründlich untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es sei ein Unfall war... Aber ich bezweifle das. Eleonore war für ihr Alter noch zu fit, um hilflos im Teich zu ertrinken.“

„Ja, sie tut mir auch leid...“, lächelte sein Tischnachbar Doktor Winner, ein Mann mit Vollglatze, traurig. „Es ist ein großes Unglück, was da geschehen ist... Aber es gibt Fachleute für diese strittigen Fälle. Die sollen sich mit den Umständen von Frau Siemens Tod beschäftigen...“
„Sie haben ja recht“, stimmte Sommer sogleich zu, „aber es gibt offensichtlich viele Unklarheiten. Ich habe sie fast jeden Tag gesehen, wenn ich ihr Lebensmittel ins Haus lieferte. Sie war eine gute Kundin, es könnte solcher mehr geben...“
„An ihrem Tod ist aber nichts Besonderes“, meinte der Arzt und nahm einen Schluck Bier, „Eleonore hatte ein krankes Herz und war als Hypertonikerin bei mir in ständiger Behandlung. Ich habe den Untersuchungsbericht zwar nicht gelesen, aber die Polizei hat von meiner Praxis die Krankenakte angefordert. Ihre Ermittlungsergebnisse sind ohne Zweifel stichhaltig.“
„Na, wenn das so ist“, meinte Sommer und starrte dabei die Kellnerin an.
Rosa war dieser Blick unangenehm und sie eilte in die Küche.
Am nächsten Morgen lief Rosa wie gewöhnlich zu ihren Mohnblumen. Auf dem Rückweg fiel ihr ein Rettungswagen vor Bems Haus auf. Erschreckt blieb sie auf der anderen Straßenseite stehen. Auch das Ehepaar Bankowski beobachtete das Geschehen.

Zwei Sanitäter kamen aus dem Haus heraus. Auf ihrer Bahre lag ein Mensch, der von Kopf bis Fuß mit einem weißen Laken bedeckt war. Daneben lief Bems Tochter Elvira, eine dreißigjährige, geistig behinderte Frau mit einem übergroßen Kopf.
Die Sanitäter schoben die Bahre ins Auto und schlossen die Türen. Bems Tochter, die bisher ruhig geblieben war, brach unvermittelt in Tränen aus. Ihre Stimme klang roh und unmenschlich laut. Rosa hatte Mitleid mit der armen, kranken Frau. Sie ging zu ihr hin, streichelte tröstend über ihr helles, verzotteltes Haar. Elvira beruhigte sich allmählich, schaute Rosa mit großen, traurigen Augen an und sagte: „Papa ist gestorben.“
„Hast du gesehen, wie es geschah?“, fragte Rosa.
„Ich weiß nicht, was geschehen ist“, schüttelte Elvira den Kopf und schaute dem Rettungswagen hinterher.
„Wie ist er gestorben?“
„Das habe ich nicht gesehen. Ich war in meinem Zimmer. Papa hat geschlafen. Ich kam zu ihm, und er war kalt. Was mache ich nun ohne Papa?“
„Ich komme später vorbei und bringe dir etwas zu essen.“
„Machst du das?“, freute sich Elvira. „Ja, bring mir etwas...“
Rosa streichelte ihr noch einmal über die Haare und machte sich dann auf den Heimweg. Als sie sich nach Elvira umdrehte, stand diese immer noch reglos an der Straße.
‚So ist das Leben‘, dachte Rosa schwermutig. ‚Die arme Elvira! Ihr Vater hat bislang für sie gesorgt, gut oder schlecht, aber er war immer für sie da. Die Nachbarn haben mitgeholfen. Und jetzt, jetzt kommt sie bestimmt in ein Pflegeheim für Behinderte...‘

Auszug aus dem Buch „Rote Mohnblumen"

(„Das Fluidum des Abgrundes")

© Heinrich (Gennady) Dick